Lesungstext Auslegung zu Mt 18,21–33
(Wortgottesdienst mit Bußfeier im Advent 2015)

Wie oft muss ich meinem Bruder, meiner Schwester vergeben? "Siebenmal?", fragt Petrus im heutigen Evangelium.
Sieben, das ist die Zahl der Vollkommenheit. Wenn Petrus nach dem "Siebenmal" fragt, dann meint er: Soll ich also immer und immer wieder vergeben? Und Jesus hätte ganz einfach antworten können: "Ja".

Aber Jesus überbietet das. "Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal", ist seine Antwort.
Über alle Maßen hinaus, ohne Maß, ja maßlos sei also euer Vergeben untereinander, maßlos euer Verständnis füreinander – ja, wie Gott selbst maßlos in seiner Liebe für uns ist.

Jesus erläutert dies in einem Gleichnis. Da ist ein Diener, der seinem König und Herrn 10.000 Talente schuldet. 10.000 – das klingt jetzt nicht nach so viel, wir hören täglich von ganz anderen Summen. Aber tatsächlich ist es eine ungeheure Summe. Zum Vergleich: 10.000 Talente, das ist das durchschnittliche Vermögen der superreichen Römer in der Hauptstadt Rom dieser Zeit. Nur der römische Kaiser hat noch mehr.

Ganz klar, der Diener hat überhaupt keine Chance, diese Summe jemals zurückzuzahlen. Und ihn mitsamt seiner Familie und seinem Hab und Gut zu verkaufen, wie es der König im Evangelium vorhat, bringt eigentlich auch nichts – das kann nur als Warnung an alle anderen gedacht sein, vorsichtiger mit dem Geld des Königs umzugehen. Aber der Diener gibt nicht auf, er bettelt, er bittet um Geduld und verspricht das Unmögliche: "Ich werde dir alles zurückzahlen." Als ob er irgendetwas ändern könnte. Doch das Unglaubliche geschieht: "Der Herr hatte Mitleid mit dem Diener", so das Evangelium, "ließ ihn gehen und schenkte ihm die Schuld."

Ist das unsere Situation? Sind wir Gott gegenüber so hoch verschuldet?
Aber wie es in der Schrift heißt, Gott schenkt uns über alle Maßen hinaus seine Liebe – maßlos eben –, er will uns eben nicht verschuldet, gebückt, gebeugt – er will uns frei, beschenkt mit Liebe und Leben.

Das Evangelium ist an dieser Stelle noch nicht zu Ende. Jesus erzählt weiter, dass dieser so reich Beschenkte auf einen weiteren Diener des Königs trifft. 100 Denare schuldet ihm dieser andere Diener. Der andere bittet nun ihn um Geduld, mit denselben Worten: "Hab Geduld mit mir! Ich werde es dir zurückzahlen."
100 Denare, das ist realistisch. In einem halben Jahr, vielleicht in einem Jahr – dann hätte der zweite Diener dies abarbeiten und zurückzahlen können. Entscheidend ist aber, was im Evangelium über den ersten Diener gesagt wird: "Er aber wollte nicht."
Der Diener, der von seinem König und Herrn so reich beschenkt worden war, so viel Erbarmen und Mitleid erfahren hat – er will nicht, bleibt hartherzig und lässt den anderen ins Gefängnis werfen.

Hätte nicht auch er Erbarmen zeigen können, so wie er Erbarmen erfahren hat? Warum tut er es nicht? Aus Unachtsamkeit? Liegt ihm einfach nichts an seinem Mitmenschen? Oder gar aus Mitleidlosigkeit? Nun, im Evangelium heißt es schlicht: Er will nicht. Papst Franziskus schreibt zu unserem Evangelium:
"Dieses Gleichnis enthält eine tiefe Lehre für jeden von uns. Jesus stellt fest, dass Barmherzigkeit nicht nur eine Eigenschaft des Handelns Gottes ist. Sie wird vielmehr auch zum Kriterium, an dem man erkennt, wer wirklich seine Kinder sind. Wir sind also gerufen, Barmherzigkeit zu üben, weil uns selbst bereits Barmherzigkeit erwiesen wurde."

Und der Papst schreibt weiter: [Aber] "Wie schwer ist es anscheinend, immer und immer wieder zu verzeihen! Und doch ist die Vergebung das Instrument, das in unsere schwachen Hände gelegt wurde, um den Frieden des Herzens zu finden."

Dies schreibt Papst Franziskus in seiner Ankündigung zum Heiligen Jahr der Barmherzigkeit. Übermorgen, am 8. Dezember, wird unser Papst Franziskus dieses Heilige Jahr (der Barmherzigkeit) eröffnen.
In diesem Schreiben zum Heiligen Jahr ordnet der Papst auch an, dass in jeder Bischofskirche eine "Pforte der Barmherzigkeit" geöffnet werde. Der Papst schreibt: "Wer durch diese Pforte hindurch schreitet, kann die tröstende Liebe Gottes erfahren, welcher vergibt und Hoffnung schenkt." Und er mahnt zugleich: "Wenn wir die heilige Pforte durchschreiten, ... verpflichten wir uns, barmherzig zu unseren Mitmenschen zu sein, so wie der Vater es zu uns ist." (Ganz im Sinne des heutigen Evangeliums.)
Unser Erzbischof Stefan wird deshalb am nächsten Sonntag das bisher verschlossene Nordportal öffnen, als Pforte der Barmherzigkeit. Und es passt dann auch wunderbar, dass über diesem Nordportal die 7 Werke der Barmherzigkeit dargestellt werden.

Es ist ein schönes Zeichen für unseren Glauben an Jesus Christus. Sagt Jesus doch von sich selbst:
"Ich bin die Tür; wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden."
Jesus Christus, er ist die Pforte der Barmherzigkeit Gottes.

So können wir auch hier, in diesem Gottesdienst, Pforten der Barmherzigkeit erfahren, Pforten, in denen uns Gott mit seiner tröstenden Liebe entgegenkommt. Nicht nur, wenn wir durch die Türen in die Kirche hereinkommen und uns mit dem Kreuzzeichen immer wieder neu unter sein Erbarmen stellen. Auch das Evangelium, das wir jeden Sonntag in unseren Gottesdiensten hören, ist für uns Christen solch eine Pforte der Barmherzigkeit, denn ER begegnet uns in jedem Wort.

Aber auch wir selbst können einander zu Pforten der Barmherzigkeit Gottes werden, mit unserer Geduld und unserer Aufmerksamkeit einander gegenüber, mit unserer Freundlichkeit und unserer Liebe. Wenn wir uns nachher zum Friedensgruß die Hände geben, können wir das ausdrücken.

Einander und miteinander können wir Pforten der Liebe Gottes sein. Wie sie Jesus Christus für uns alle ist. Dazu sind wir hier.
Und deshalb feiern wir auch Weihnachten.

© Martin Kornelius